Meist wird dabei auf freimaurerische Gruppierungen getippt. Obwohl wir schon mehrmals in der Gnostika versucht haben, solchen Verschwörungstheorien den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat das
wenig gefruchtet. So haben wir schon vor einiger Zeit beschlossen, uns ausführlich vorzustellen. Etwas peinlich ist so ein Fragenstriptease jedoch trotzdem und so fügte es sich wunderbar, dass es
immer anderes – natürlich viel Wichtigeres – zu tun gab. Da seit der letzten derartigen Ankündigung in der Gnostika vom November 2006 aber schon wieder über ein Jahr vergangen ist, haben wir uns
endlich aufgerafft und „präsentieren“ zuerst einmal die Person, die von den Leserinnen und Lesern am ehesten mit unserer Zeitschrift identifiziert wird, nämlich Dr. Hans Thomas Hakl. Diese
Identifikation Hakl – Gnostika ist natürlich völlig ungerechtfertigt, hat wenig mit der tatsächlich für die Zeitschrift geleisteten Arbeit zu tun und ist allein auf das regelmäßig unter seinem
Namen erscheinende Kaleidoskop zurückzuführen: die Gnostika als Spiegel der realen Welt. Und in dieser gilt bekanntlich „ … die im Schatten sieht man nicht, man sieht nur die im Lichte ...“
Für unsere persönliche Vorstellung haben wir die Form des Interviews gewählt. Erstens haben wir – das sind die beiden anderen Mitglieder des Gnostika-Dreierteams – das bei anderen – wesentlicheren Persönlichkeiten - ebenfalls so gemacht und zweitens konnten wir auf diesem Weg etwas tiefer bohren, wenn die Antworten zu wünschen übrig ließen. Allerdings, die übliche Anzahl von zehn Fragen hat keineswegs ausgereicht, um die umfassende Information zu gewährleisten, die wir – im zwölften Erscheinungsjahr – unserer Leserschaft wahrscheinlich doch schuldig sind. Bei unseren Interviewgästen mussten wir aus Diskretions- und Respektsgründen oft früher Halt machen, aber bei einem eigenen Mitarbeiter brauchten wir solche Anstandsregeln natürlich nicht zu beachten. Es geschieht doch alles nur zum Wohle der Zeitschrift.
Nein, meine Eltern hatten kein Interesse an Esoterik. Die so genannte Kriegsgeneration (ich bin 1947 in Österreich geboren) hatte andere Sorgen. Aber eine Schlüsselrolle spielten sie doch, denn
im Rahmen eines so genannten Lesezirkels bekamen sie einmal die Woche eine größere Anzahl von aktuellen Zeitschriften zugestellt. Und es war, wenn ich mich recht erinnere, in der dort enthaltenen
Frankfurter Illustrierten, dass ich das berühmte Buch Das dritte Auge von Lobsang Rampa als Fortsetzungsroman fand. Von dieser angeblich authentischen tibetischen Geschichte einer Öffnung des
Dritten Auges war ich restlos fasziniert. Ich war damals vielleicht zwölf Jahre alt und hatte die Lektüre von Märchen, Karl May und Edgar Wallace schon hinter mir. Bereit für Neues, wurden nun
Tibet und bald darauf Indien zu den neuen Spielfeldern meiner durch Lobsang Rampa angeregten Phantasie. Doch wo etwas finden zu den „geheimen“ Traditionen dieser Länder, die Rampa angesprochen
hatte?
Mutter Fügung fügte es wunderbar, denn ich begann bald einmal zur Erweiterung meiner englischen Sprachkenntnisse amerikanische Wildwesthefte von Autoren wie Zane Grey und Max Brand zu lesen, die
mir ein Freund meines Vaters lieh. Und da geschah es. In einem dieser so genannten Schundhefte war eine Werbung von Thorson Publishers, dem damals bekannten englischen Verleger esoterischer
Bücher und alternativer Heilkunde. Da gab es Bücher über Yoga, Theosophie, Tibet, Indien und - was mich am meisten verblüffte – gar über modernes Hexenwesen. Meine nächsten Geschenkswünsche für
Geburtstag, Weihnachten usw. standen sofort fest. Und damals – oh glückliche Zeit – las ich noch alle Bücher, die ich bestellte und versuchte auch meist sofort, das Gelesene in die Praxis
umzusetzen.
Während eines Yogakurses in der Volkshochschule – ich war vielleicht sechzehn Jahre alt - kam ich dann mit einem führenden Theosophen in Kontakt, der mich mit seinem Freundeskreis bekannt machte.
So bekam ich immer mehr Bücher zu lesen und ziemlich schnell war mir klar, was mich interessierte und was nicht. Zu ersterem gehörten bald C.G. Jung und Yoga, das ich auch regelmäßig praktizierte
sowie alles Magische. Als uninteressant abgeschrieben hatte ich hingegen Theosophie, Anthroposophie und das, was man heute New Age Literatur nennen würde.
Nein. Natürlich lernte ich einige Leute kennen, die sich seit Jahren mit Esoterik im weitesten Sinne beschäftigten, aber entscheidende Einflüsse empfing ich von ihnen nicht. Doch ich las sehr
viel. Das Gymnasium und die Matura bereiteten mir ja keine wirklichen Schwierigkeiten Neben indischer Philosophie las ich insbesondere Psychologie und da vor allem Freud und Jung. Bei Jung
faszinierte mich ganz besonders das Konzept der Individuation, das im Selbst als einer coincidentia oppositorum kulminierte. Ebenso wichtig für mich war Mircea Eliade, dessen Ausführungen über
das illud tempus, jener Zeit außerhalb der Geschichte bei den Naturvölkern, mir zweifellos den Weg zum Verständnis von Evolas und Guénons Denken geebnet hat. Einen Mann, der mich tief beeindruckt
hat, muss ich auf jeden Fall ebenfalls noch nennen Das war Sri Ramana Maharshi. Das Erkennen, was es mit seinem ständigen Nachfragen nach dem Ich auf sich hatte, war ein Schlüsselerlebnis für
mich.
Unter den Magiern hatte es mir speziell Aleister Crowley angetan: die Provokation als Pflicht und Neigung der Jugend. Noch bei meinem ersten Besuch in London im Jahr 1966 – nachdem ich auf der
Insel Jersey als Nachtportier gearbeitet hatte, um mein Studium zu finanzieren – fand ich in den Antiquariaten Erstausgaben von Crowley um sechs, sieben Pfund. Mit Herbert Döhren, der unter dem
Autorennamen H.E. Douval die zwölf Bücher der praktischen Magie verfasste, trat ich in Kontakt. Bei ihm überzeugte mich die vernünftige und praktische Beschreibung der magischen Praxis. Das war
auch der Grund, warum ich – allerdings um einige Jahre später - so begeistert von William Gray und dessen Buch Magical Ritual Methods war. Hier fand ich eine „down to earth“ Erklärung der Magie,
die man selbst umsetzen konnte, ohne sich lächerlich vorzukommen. Bei Gray hatte ich zusätzlich das Glück, dass er viel von seinem Wissen ursprünglich einem Österreicher verdankte, weshalb er mir
gegenüber, der eben auch aus Österreich kam, besonders offen war. Vielleicht hoffte er sogar, dass ich seinen Weg weiterführen würde. Aber das verhinderten bald meine berufliche Selbständigkeit
und die damit verbundenen Pflichten und Anstrengungen.
1967 war ein besonders wichtiges Jahr für mich. Da erschien nämlich beim einschlägigen Hermann Bauer Verlag in Freiburg/Breisgau das Buch Experimentalmagie von „Dr. Klingsor“ – ein
offensichtliches Pseudonym aus dem Parsifal. Kaum hatte ich dieses Buch in der Hand und all die Sigille, Glyphen und Symbole sowie die mysteriösen Andeutungen auf geheime magische Orden gesehen –
das ist nun mal meine romantische Ader - schrieb ich auch schon an den Verlag und bat um Kontakt mit Dr. Klingsor. Sehr schnell erhielt ich einen Brief von Prof. Dr. Adolf Hemberger, damals noch
an der Universität Frankfurt, der mir mitteilte, dass er bald meinen Wohnort besuchen würde. Dort würde nämlich Hofrat Karl Worel leben, der „letzte“ praktische Alchimist und Inhaber einer
bedeutenden esoterischen Bibliothek von mehreren tausend Bänden. So lernte ich nicht nur „Dr. Klingsor“ sondern auch Hofrat Worel kennen und schätzen.
Adolf Hemberger, der bald darauf als Lehrstuhlinhaber für Wissenschaftstheorie und Forschungsmethodologie nach Gießen berufen wurde, führte mich bereits anlässlich meines ersten Besuchs bei ihm
in Deutschland in die Fraternitas Saturni ein, wo ich vor allem Guido Wolther (Mstr. Daniel) kennen lernte. Adolf Hemberger knüpfte auch weitere Kontakte für mich, wobei ich besonders Ellic Howe
in London, Oscar Schlag in Zürich und Joseph Grasser in Paris erwähnen möchte. Durch Adolf Hembergers Hinweise kam es ebenso zu einem Aufenthalt beim O.T.O. in Stein, Appenzell, wo ich mit Joseph
Metzger, aber vor allem der dortigen reichhaltigen Bibliothek bekannt wurde.
Das geschah über die Bücher des von mir damals wie heute geschätzten Dr. Henri Birven. Leider habe ich ihn nicht mehr persönlich besuchen können, denn gerade als ich ihn kontaktierte, starb er (1969). Birven, der sehr gebildet war, mehrere Sprachen beherrschte und sowohl Aleister Crowley als auch Julius Evola persönlich gekannt hatte, schrieb so enthusiastisch über Evola und im speziellen über die Gruppe von Ur mit ihren Aufsätzen zur Einführung in die Magie als Wissenschaft vom Ich, dass ich alles daransetzte, zu diesen damals völlig vergriffenen Texten zu kommen. Da ich mit der italienischen Sprache keine Mühe hatte, gelang es mir nach einigem Suchen, das gesuchte dreibändige Werk in einem Antiquariat in Rom aufzutreiben. Obwohl ich nicht zuviel Geld besaß – ich musste mein juristisches Studium selbst finanzieren – kaufte ich es sofort. Und – das muss ich gestehen – kaum hatte ich begonnen, den ersten Band der Gruppe von Ur zu studieren – war ich ebenso begeistert wie Henri Birven. Dass ich mir dann alles von Evola besorgte, was ich bekommen konnte – im Gegensatz zu heute, war das Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre kein leichtes Unterfangen – versteht sich bei einem Büchernarren wie mir von selbst.
Kennen gelernt ist wohl etwas übertrieben. Ich habe ihn 1972 einmal in seinem kleinen, ihm von einer Gönnerin zur Verfügung gestellten Appartement in Rom besucht. Erst nachträglich habe ich erfahren, dass es gar nicht so einfach war, bei ihm einen Besuchstermin zu bekommen. Ich hatte ihm aber bereits zuvor geschrieben – der Traditionsliebhaber und Professor an der ehemaligen Hochschule für Welthandel in Wien, Prof. Walter Heinrich, hatte mir die Adresse mitgeteilt - und um Informationen über die Gruppe von Ur gebeten. Evola hatte mir freundlich geantwortet, ohne allerdings sehr tief auf meine Fragen einzugehen. Als ich einmal im Rahmen einer Geschäftsreise – ich war damals im Export einer Elektroartikelfabrik tätig – nach Rom musste, rief ich ihn vorher an und er sagte mir sofort ein Treffen zu.
Sensationen gibt es leider keine zu erzählen. Nachdem ich von seiner Haushälterin empfangen worden war, wurde ich zu ihm geführt. Ich weiß nicht mehr, ob er in seinem Bette lag oder im Rollstuhl
saß, aber in jedem Fall sah er elend aus. Krank, erschöpft und verbittert. Geistig jedoch war er hellwach. Ich erzählte ihm von meinen hochfliegenden Plänen, die Monographien der Gruppe von UR in
deutscher Sprache zu veröffentlichen, sobald es mir möglich sein würde und das freute ihn sichtlich. Wie er überhaupt Freude daran zu haben schien, wieder einmal Deutsch zu sprechen – das geschah
nämlich auf seinen Wunsch.
Evola beklagte sich vor allem darüber, dass – bis auf ganz wenige junge Menschen – niemand hören oder lesen wollte, was er zu sagen hätte. Aber auch die Jungen würden sich nicht wirklich
eingehend mit seinen Gedanken beschäftigen, sondern gleich aktiv sein und die Welt revolutionieren wollen, ohne sich vorher überhaupt über ihre eigene geistige Ausrichtung klar geworden zu sein.
Auf die Frage, welche Autoren ich außer Kremmerz, Guénon und Evola studieren solle, nannte er, wie aus der Pistole geschossen, den Namen Gustav Meyrink. Meyrink hätte einfach ein tieferes Gespür
für echte Esoterik gehabt. Auf die weitere Frage, ob es initiatische Gruppierungen in der Jetztzeit gäbe, schüttelte er nur den Kopf. Er wüsste von nichts. Nach vielleicht anderthalb Stunden war
die Unterredung vorbei. Evola wollte und musste ruhen.
Erst viel später wurde mir in der Rückerinnerung und aus Gesprächen mit anderen klar, dass mir Evola nicht nur deshalb wohl gewogen war, weil ich aus Österreich kam, wo er so viel Zeit verbracht hatte, sondern auch deswegen, weil sich unser Gespräch auf esoterische Themen beschränkte. Politik hatte aufgehört, ihn zu interessieren. Er litt zu sehr und wollte wenigstens noch einige seiner metaphysischen Ideen über den Tod hinaus retten. Von der Politik dürfte er rein nichts mehr erwartet haben.
Und sonst? Was soll ich sonst noch zu Evola sagen? Ich habe ja bereits genug über ihn geschrieben.
Eine leidige, aber zu erwartende Frage. Verwendet habe ich dieses ja sehr transparente und auch nie geheim gehaltene Pseudonym aus einem ganz einfachen Grund: ich wollte möglichst meine Ruhe
haben. Ich war ein selbständiger Geschäftsmann und hatte gute Partner, die ich mit meinen esoterischen Interessen nicht tangieren wollte. Daher signierte ich bis 1995 alles, was ich schrieb,
entweder mit H.T. Hansen oder gar nur mit H.T.H. und nicht bloß, wie manche annehmen, die Aufsätze über Evola. Das kann man leicht in meiner Bibliographie nachschlagen.
Ich hätte das auch weiterhin so gemacht, obwohl ich inzwischen meine Geschäftsanteile verkauft hatte, um mich völlig meinen Esoterikforschungen und meiner Bibliothek widmen zu können. Da kam mir
aber Prof. Antoine Faivre in die Quere. Ich sollte für die von ihm mitverantwortete Zeitschrift ARIES eine Rezension über ein Werk von Oskar Schlag schreiben. Als ich ihm dann erklärte, dass ich
das unter dem Namen H.T. Hansen machen wollte, weigerte er sich kategorisch. ARIES sei eine wissenschaftliche Zeitschrift und da gäbe es keine Pseudonyme.
Das war der Anfang und von da an begann ich, meine Arbeiten auch in anderen Zeitschriften mit meinem tatsächlichen Namen zu unterzeichnen. Selbst wenn man dabei etwas nackt dasteht und man sich
erst daran gewöhnen muss. Das geschah gerade noch rechtzeitig vor dem Start von Gnostika im Oktober 1996, die deshalb auch unter meinem richtigen Namen läuft. Heute bin ich dankbar dafür. Merci,
Monsieur Faivre.
Da habt Ihr zweifellos Recht. Das betraf aber nun tatsächlich nur noch Aufsätze, die mit Evola zu tun hatten. Das geschah wiederum aus zwei Gründen. Erstens ist Evola nun mal ein sensibles Thema
und diejenigen, die sich dafür interessieren, sind fast ausschließlich entweder heftige Gegner oder eiserne Anhänger. Beide sind – wenn man das so offen sagen darf – ziemlich lästig und nur zu
oft so einseitig verbohrt, dass alles, was ihren Ansichten widerspricht, ausgeblendet wird. Hinweise auf Fakten, Zusammenhänge oder Zeitumstände werden meist grundsätzlich ignoriert, womit
Gespräche oder gar Briefdiskussionen sinnlos werden. Evola polarisiert einfach, was ich auch durchaus verstehen kann. Evola ist nun einmal der klassische Häretiker, der sich nie anpasst und auch
nie „Reue“ gezeigt hat. Gespräche über ihn haben mich deshalb oft an die theologischen Streitigkeiten im Mittelalter und der Renaissance erinnert, wo von vorneherein feststand, wie man zu
antworten hatte. Zweitens war H.T. Hansen in Kreisen, die sich für Evola interessierten, zu einem festen Begriff, fast möchte ich sagen zu einer trademark geworden, die sichere Verkäufe
versprach. Eine für einen Verleger nicht ganz unwesentliche Überlegung.
Nach 1999 habe ich allerdings nur noch meinen eigenen Namen verwendet. Ausnahmen bildeten bloß fremdsprachliche Übersetzungen älterer Texte von mir, die ursprünglich unter H.T. Hansen erschienen
waren. Zwei unterschiedliche Autorennamen für ein- und denselben Text erschienen mir dann doch nicht das Richtige zu sein. Mit dem neuen Jahrtausend machte ich also endlich reinen Tisch. Alle 50
Jahre kommt bekanntlich ein Jubeljahr, wo sämtliche Schulden getilgt werden und somit ein Neubeginn möglich wird. 2000 war ein solches Jubeljahr.
Ja natürlich. Jedes Mal, wenn ich etwas unter Hakl schrieb und dann etwas von H.T. Hansen zitieren wollte. Ich musste in solchen Fällen natürlich unter Hansen zitieren, denn unter diesem Namen
war der zitierte Text ja erschienen. Dazu kommt, dass man automatisch in ein schiefes Licht gerät, wenn man ein Pseudonym verwendet, obwohl es natürlich nichts Verbotenes ist. Ein Pseudonym gibt
nur Sinn, wenn man wirklich völlig im Hintergrund bleibt. Das hatte ich ja auch geplant, da ich nie daran gedacht hatte, so viel zu schreiben oder gar Vorträge zu halten, wie ich das jetzt
tue.
Warum hast Du Dich wirklich so lange schon und so intensiv mit Evola auseinandergesetzt und Übersetzungen, Vorworte, zahlreiche Aufsätze, Lexikonartikel
verfasst?
Abgesehen davon, dass für mich eine gewisse Ausdauer charakteristisch ist, liegt die Hauptursache sicherlich in der Faszination, die der erste Band der Magie als Wissenschaft vom Ich in
mir ausgelöst hatte. Und zwar eigenartigerweise hauptsächlich der erste Band. Der zweite und dritte faszinierten mich schon weniger. Ich verdankte Evola einfach ein völlig neues Verständnis von
Magie. Seine klaren Formulierungen, seine Gedankenschärfe, seine packenden Bilder (Evola als „Herr der Mythen“) und schließlich die eminent praktischen Hinweise. Man sah und spürte, dass hier
jemand wirklich aus eigener Erfahrung sprach und einen klaren, nachvollziehbaren geistigen Weg aufzeigte. Kein blödsinniges Herumreden, keine falsche Geheimniskrämerei, kein „ich darf nicht“ oder
„Du musst noch warten“, keine Wichtigtuerei, kein „Ich bin der Meister“, sondern vielmehr: hier sind die Fakten, prüfe sie, handle danach und Du selbst wirst erkennen.
Ebenso imponierte mir die Aufforderung, immer bei klarem Bewusstsein zu bleiben und sich nicht irgendwelchen Gurus, „Geistwesen“ oder Drogen auszuliefern, wo das Bewusstsein ausgeschaltet oder
beeinträchtigt wird. Selbst und aus eigener Kraft sollte man die Aufgaben lösen und nicht vergeblich darauf hoffen, dass etwas Drittes einem die Arbeit abnehme. Diese „aufklärerische“, an
wissenschaftliche Lehrmethoden gemahnende Schulung war genau das, was ich gesucht hatte. So etwas trifft man in anderen magischen Schriften nicht so leicht. Man vergleiche etwa die Texte des
ungleich berühmteren Ordens vom Golden Dawn.
Und dann hatte ich ihn, Evola, getroffen, sein Leid, seine Verbitterung gesehen. Das hat eine zusätzliche emotionale Reaktion in mir hervorgerufen. Sie verstärkte meinen Vorsatz, zumindest diese
drei Bände der Magie in deutscher Sprache herauszubringen. Ich suchte nach einem Verlag und nach einem Übersetzer. Aber es war aussichtslos: zu umfangreich, zu teuer, zu unbekannt waren die
Standardantworten der einschlägigen Lektoren. Dann kam 1978 meine Beteiligung beim Ansata-Verlag, damals einer der bedeutendsten esoterischen Verlage und Versandbuchhandlungen im deutschen
Sprachraum. Paul A. Zemp, der Ansata begründet hatte, war zwar ein ausgezeichneter Kenner wertvoller esoterischer Literatur, aber leider kein Kaufmann. Da musste ich einspringen, obwohl ich ja
viel mehr an den Büchern interessiert war als an kommerziellen Fragen. Schöngeistigkeit mag schön und geistig sein, aber hier in unseren irdischen Gefilden überlebt man ohne materielle Basis nur
sehr selten.
Doch zurück zum Thema. Trotz Paul Zemps vieler Kontakte und trotz Suchaktionen nach Übersetzern ließ sich niemand finden, der oder die auch nur annähernd fähig gewesen wäre, Evola adäquat zu
übersetzen. Nach all den vergeblichen Bemühungen entschloss ich mich schlussendlich selbst die Übersetzung anzugehen und das neben meinen Aufgaben als Firmenteilhaber eines rasch weltweit in
dreizehn Länder expandierenden Handelsunternehmens und neben Ansata. Bald musste ich allerdings erkennen, dass die Übersetzung der „Magie“ zu viel Zeit, Energie und Studium benötigte und wegen
meiner ständigen Reisetätigkeit nicht durchführbar war. Daher kam der Entschluss die Magie zu verschieben und stattdessen etwas leichter Übersetzbares von Evola zu nehmen. Die Revolte gegen die
moderne Welt bot sich an, denn es gab schon eine deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1935. Allerdings konnte sie nicht einfach übernommen werden, da Evola seinen Text in der Zwischenzeit bereits
zweimal stark überarbeitet hatte und die Sprache viel zu schwülstig war. Aber zumindest viel leichter machbar schien und war auch die Aufgabe.
1982 erschien das Buch dann und verkaufte sich sofort überraschend gut. Mit den Folgen jedoch, die zwar einige Zeit auf sich warten ließen, hatten Paul Zemp und ich in dieser Form nicht
gerechnet. So donnerte Umberto Eco in einer Ansprache an der Frankfurter Buchmesse, dass er in den Frankfurter Buchläden statt Bücher von Georg Lukács solche von Evola, Guénon und Gurdjieff
gesehen hätte. Von den anwesenden Journalisten wusste wahrscheinlich kaum jemand, wer diese drei Leute waren, aber man wusste, dass man dagegen war und man wusste auch binnen kürzester Zeit, dass
der Ansata Verlag einen Evola ausstellte. Journalisten kamen und ich musste Rede und Antwort stehen. Interessanterweise aber waren die meisten dieser Gespräche gar nicht unangenehm, sobald man
einige Erklärungen geliefert hatte und möglichst noch ein Exemplar der Revolte zum Studium mitgab.
So erinnere ich mich an einen sehr wohltuenden Gedankenaustausch mit einem ganz bekannten Fernsehjournalisten, der das Buch dann sogar noch las und mich daraufhin anrief, um mir zu sagen, wie
stark das Buch ihn beeindruckt hätte, obwohl er anderer Meinung sei. Werbung könne er natürlich keine dafür machen. Aber das hatte ich sowieso nicht erwartet. Auch Gerhard Wehr lernte ich über
Evola an der Buchmesse kennen und schätzen. Wie ich überhaupt einmal erwähnen möchte, dass ich die Wertschätzung und in manchen Fällen sogar Freundschaft gar nicht weniger, eher „unpolitischer“
Leute gerade deswegen erfuhr, weil ich dieses „Los“ mit Evola „auf mich genommen“ hatte. Aus Gründen der Ehrlichkeit sollte ich allerdings hinzufügen, dass man in solche Dinge viel eher langsam
hineinschlittert als bewusst hineingeht. Und in die Politik hatte ich schon gar nicht wollen.
Obzwar ich der berühmten 68er-Generation angehöre, glaubte ich nämlich eher an eine „Verbesserung“ der Welt durch einen „esoterischen“ Bewusstseinswandel in uns selbst als durch äußere politische
Veränderungen. Meine politische Welt war damals durch Bücher von George Orwell, wie Farm der Tiere oder 1984 (ein Buch, das ich systematisch alle fünf Jahre aufs Neue las), Aldous Huxleys Schöne
neue Welt, die Geschichte des Großinquisitors aus Dostojewskis Die Brüder Karamasow oder auch Gustave le Bons, Psychologie der Massen bestimmt gewesen. Skeptische Literatur also, die mich etwas
später zu Noam Chomskys Manufacturing Consent und Necessary Illusions hinführte. Marx und Lenin las ich nicht. Vertraut war ich hingegen mit Maos so genannter Roter Bibel, die ich in London
bereits bei meinem ersten Aufenthalt erstanden hatte. Aus der Frankfurter Schule war mir eigentlich nur die Dialektik der Aufklärung ein Begriff.
Vielleicht auf Grund dieser einseitigen und mangelhaften politischen Vorbildung war ich gänzlich unvorbereitet auf die Reaktionen, die folgten. Unter Berufung auf Eco und andere Quellen
bezichtigte plötzlich eine ganze Reihe von Buchhändlern den Verlag nicht nur, faschistische Ideen zu propagieren, sondern fügte gleich noch hinzu, dass sie sämtliche Verkäufe von Ansatabüchern
stoppen würden, wenn man diesen üblen Evola nicht sofort aus dem Programm nähme usw. usw. Eine gewaltige Drohung für einen kleinen Verlag, die noch eine Verschärfung dadurch erfuhr, dass man eine
sofortige Entscheidung von uns verlangte. So leicht aufgeben wollten wir allerdings doch nicht und so entschieden wir uns nach einiger Überlegung und Prüfung des Rückgrates sowie der Bilanz
trotzdem weiterzumachen. 1989 erschien dann – wiederum von mir übersetzt - eines von Evolas besten Büchern, nämlich Die hermetische Tradition, die sowohl C.G. Jung als auch Mircea Eliade
beeindruckt hatte.
Die fortdauernden Angriffe zwangen mich allerdings, den politischen Evola, der mich bisher nur am Rande interessiert hatte, ebenfalls eingehend zu studieren. Denn schließlich musste ich nicht nur
mich selbst wehren können, sondern auch den Namen des Verlages rein halten. Dabei ging es nicht darum, Evolas politische Ideen zu verteidigen, sondern einfach die historischen Fakten darzulegen
und sie in ihre Zeit einzuordnen. Gelang das nicht, würde mittelfristig auch der „esoterische“ Evola sterben. Das war klar. Ansata hätte auf längere Zeit den Gegenwind nicht durchstehen können.
Nur, was sollten wir bei Ansata tun? Politische Literatur wollte niemand von uns verlegen und das war auch ein völlig anderes Publikum. Da erfuhr ich vom Plan, dass in Deutschland Evolas eminent
politisches Manifest Menschen inmitten von Ruinen herausgebracht werden sollte.
Zuerst erschrak ich fürchterlich und dachte, dass dies das Ende des Abenteuers mit Evola bedeute. Dieses Buch, das einen hierarchischen, antidemokratischen Staats- und Reichsgedanken propagiert,
musste notwendigerweise und verständlicherweise sämtliche seiner Gegner auf den Plan rufen und die Boykottaktionen der Buchhändler noch weiter verstärken. Zwar haben die esoterischen Werke Evolas
keinen unmittelbaren politischen Hintergrund, aber wer differenziert denn schon so genau? Doch dann erkannte ich, dass mir nichts anderes übrig blieb, als eben den Stier bei den Hörnern zu
packen. So trug ich dem Verleger des geplanten Werkes, den ich von der Buchmesse her kannte, ein erklärendes Vorwort von mir an. Darin wollte ich möglichst genau Evolas Werdegang nachzeichnen und
deutlich darauf hinweisen, dass sich seine politischen Ideen aus seinen spirituellen herleiten, die sich unter anderem auf Meister Eckhart, die Bhagavad Gita und das Dao de Ging zurückführen
ließen. Das alles wollte ich mit Zitaten aus seinen eigenen frühen Schriften beweisen. So sollten sich die Leser auf Grund der zusammengefassten Fakten ein eigenes Urteil über den politischen
Evola bilden können. Denn ich wusste nach meinen Studien sehr wohl, dass es zu simpel war, Evola trotz zahlreicher antisemitischer und rassistischer Fehltritte einfach als „Faschisten“ und
„Rassisten“ abzufertigen, ohne seine künstlerischen, philosophischen und esoterischen Aktivitäten zu beachten.
Natürlich war mir dabei bewusst, dass ich meinen Ruf riskierte, wenn ich mich mit einem Verlag einließ, der für seine eindeutig rechten politischen Positionen bekannt war. Aber was für ein Verlag sonst hätte es denn gewagt, Menschen inmitten von Ruinen zu veröffentlichen? Und dass man mir zusätzlich großzügigerweise den Platz für ein fast hundertvierzigseitiges Vorwort gegeben hat, das sicherlich nicht den üblichen nationalen Vorstellungen des Verlages entsprach (Evola war immer ein Gegner nationalistischer Positionen), möchte ich hier besonders dankbar anmerken.
Im Nachhinein ist immer leicht reden. Aber dieser Entschluss war ein glücklicher, denn so konnte ich auch noch zahlreiche Übersetzungsfehler verbessern, die allein darauf zurückzuführen waren,
dass man Evola sehr genau kennen muss, um nicht eigene Ideen in die Übersetzung hineinzuprojizieren. Ohne Vorwort hätte ich diese Übersetzung nie gesehen und sie wäre genauso fehlerhaft auf den
Markt gekommen, wie das später bei einem anderen politischen Buch Evolas der Fall war, das trotz mehrerer Überarbeitungen leider noch immer Stückwerk geblieben ist. Irgendwie ist aus diesem Fall
dann eine Art Verantwortungsgefühl erwachsen, möglichst ein wachsames Auge auf Publikationen und Verlage zu halten, die sich mit Evola beschäftigten und dabei manchmal auch einzugreifen, wenn mir
gröbere Missverständnisse auffielen. Da ich als „Experte“ einen ganz guten Ruf hatte, führte das bald dazu, dass mich Verleger oder auch Autoren teilweise schon vor ihren Veröffentlichungen
kontaktierten, um falsche Interpretationen oder sachliche Fehler zu vermeiden. Da ja nicht alle Tage etwas über Evola geschrieben wurde, war das bei weitem nicht so mühsam, wie das vielleicht
klingt.
Mein Vorwort hat jedenfalls die Debatte über Evola ungemein versachlicht. Trotz des „rechten“ Erscheinungsortes ist diese Arbeit zu meiner eigenen Verwunderung bis heute maßgeblich geblieben und
zwar bei Freund und „Feind“. Es ist anscheinend nichts Besseres nachgekommen. Natürlich würde ich heute manches anders formulieren. Inzwischen ist in Italien ja soviel Literatur über Evola
erschienen – und zwar vor allem auch gute „gegnerische“ – dass sich auch manche meiner Standpunkte verändert haben. Aber der grundsätzliche Ansatz dürfte nach wie vor gültig sein. Jedenfalls ist
dieses Vorwort, das ich – damals noch ohne Computer – in nicht einmal drei Monaten zu Papier bringen musste, weil der Verlag drängte, sogar in die amerikanische Ausgabe des Werkes (Men Among the
Ruins) übernommen worden.
Die amerikanische Ausgabe war für mich überhaupt eine große Überraschung, denn der verantwortliche Verlag Inner Traditions ist nämlich kein politischer, sondern der größte esoterische Verlag der
Vereinigten Staaten. Der Entscheid dieses Buch aufzunehmen, ging übrigens unmittelbar auf den Verlagsinhaber Ehud Sperling zurück, der unkonventionelle Denker besonders fördert und den gesamten
Evola in englischer Übersetzung herausbringen würde, hätte er nur genügend professionelle Übersetzer dafür. Men Among the Ruins zeichnet sich noch zusätzlich durch ein Vorwort des von mir
besonders hoch geschätzten Esoterik-Spezialisten und Musikwissenschaftlers Joscelyn Godwin aus.
Hier ist die Antwort ganz einfach. Weil niemand sonst etwas von Evola wissen wollte und diese Zeitschriften mich ausdrücklich um Beiträge baten. Ich hätte meine Aufsätze genau so in „linken“ Zeitschriften oder im Spiegel platziert. Aber da hat mich leider niemand gefragt. Dazu kommt – und das finde ich ebenfalls der Erwähnung wert – dass es dabei nie den geringsten Versuch gegeben hat, meine Aufsätze in irgendeiner Weise abzuändern, obwohl sie sicherlich nicht immer genau das enthielten, was man sich erhofft hatte.
Na ja, das war nicht immer angenehm, weil ich selbst der (vielleicht auch irrigen) Meinung bin, dass ich im Kern neutral über Evola schreibe und mich deshalb ungerecht behandelt fühlte. Wer
jedoch über Evola berichtet, darf nicht sonderlich wehleidig sein und als „Neutraler“ sitzt man sowieso zwischen zwei Stühlen. Die Evola-Anhänger meinen, man hätte den „Meister“ nicht richtig
verstanden oder sei unfair und den Evola-Gegnern reicht allein die Tatsache, dass man über ihn schreibt, ohne ihn rundweg und auf ewig zu verdammen, um sofort das Verdikt des Faschisten
auszuteilen.
Ich leugne auch keineswegs Evolas antidemokratischen Ideen oder seine Rassismen. Wie könnte ich auch? Ich stelle sie nur in ihren historischen Kontext, differenziere, indem ich Evola genau und
umfassend zitiere und zwar in seinem eigenen Pro und Contra und versuche schließlich zu analysieren, wie er zu seinem Weltbild gekommen ist. Das halte ich nicht nur für legitim (selbst bei einem
„Outsider“ wie Evola), sondern vielmehr für die einzig mögliche wissenschaftliche Vorgangsweise (ohne mich deswegen als Wissenschaftler ausgeben zu wollen).
Das Gegenargument dazu lautet immer, dass unsere Demokratie eine „wehrhafte“ zu sein habe und daher Faschismen und Rassismen jedweder Art nicht der geringste Spielraum geboten werden dürfe. Daher
gäbe es an Gestalten wie Evola auch nichts zu studieren oder zu verstehen. Ihre Schriften gehörten einfach grundsätzlich kritisiert, vielleicht gar unterbunden oder wenigstens verschwiegen. Jeder
verstehende Kommentar sei von vorneherein schädlich und würde nur Extremisten Argumentationshilfen liefern. Abgesehen vom totalitären Charakter solcher und ähnlicher Denkverbote, sind sie – so
fürchte ich - gleichzeitig naiv und da spreche ich jetzt nicht nur von Evola, sondern ganz allgemein. Sie führen nur zu einer Verdrängung mit entsprechender „Schatten“bildung (im Jung’schen
Sinne), die sich dann zwangsweise anderweitig Luft schafft. Und glücklicherweise ist es – mit Unterbrechungen - seit der Aufklärung Gepflogenheit geworden, auch Standpunkte diskutieren zu dürfen,
die nicht nur Bravorufe auslösen. Würde es sonst Sinn machen, von „Emanzipation“ zu sprechen und nach einem „mündigen“ Bürger zu rufen? Es wird ja wohl nicht so sein, dass der „mündige Bürger“
derjenige ist, der die Meinung vertritt, die man selbst hat.
Hier komme ich nicht umhin, den inzwischen ebenfalls schon teilverfemten Martin Walser zu zitieren, der anlässlich der Verleihung des Dolf Sternberger Preises in der Heidelberger Uni im Jahr 1994
eine traurige Analyse abgab: „Damit sind wir wieder beim Charakteristikum dieses Jahrzehnts: Tabuzüchtung im Dienst der Aufklärung. Machtausübung, die sich als Aufklärung versteht.“
Aber ich muss noch die Frage beantworten, wie ich mit den Angriffen umgehe, die gegen mich gerichtet waren und natürlich auch noch sind. Es mag verwundern, dass mir dabei – natürlich etwas
zugespitzt ausgedrückt und erst nach einiger Übung im Verdauen – die zwei Stichworte Dankbarkeit und Mitgefühl einfallen. Zur Erklärung: zuerst ist man natürlich verletzt und empört ob der
Ungerechtigkeit, die einem da entgegenschlägt, ob der Verdrehung der eigenen Gesichtspunkte oder der Missachtung von Fakten. Und im schlimmsten Fall ist man gar angsterfüllt, denn mit solchen
Angriffen sind immer auch mehr oder weniger deutliche Drohungen des Ausschlusses aus der „Gemeinschaft“ und des Vorgeführtwerdens am Pranger verbunden.
Doch, irgendwann beginnt man sich zu fragen: Warum bin ich empört, warum habe ich Angst? Sind meine Meinung und mein Ich so schwach fundiert, dass ich mich tatsächlich verletzt und voll Angst
fühlen muss? Und vor allem: nehme ich mich in meiner Verletztheit und Angst nicht viel zu wichtig? Heißt es nicht im Buddhismus, dass das Hängen am Ich die Wurzel alles Leidens ist?
Und kaum hat man die eigene Wichtigkeit und Egozentrik nur ein wenig relativiert, verlieren sich die negativen Emotionen relativ rasch. In anderen Worten: solche Angriffe auf das Ich lehren eine
Form von neuer Bescheidenheit und Selbstbeschränkung. Gleichzeitig lernt man, auch mit anderen persönlichen Gekränktheiten umzugehen und die eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit sowie von Gut
und Böse stark zu relativieren. Die „Angreifer“ glauben ja häufig ebenfalls, „Recht“ zu haben und aus „guten“ Gründen zu handeln. Alles wichtige Erkenntnisse, für die man nun tatsächlich
„dankbar“ sein kann.
Dann gibt es noch den zweiten Aspekt, den ich mit Mitgefühl umschrieben habe. Wie viele Demütigungen, Frustrationen, Beleidigungen und Ungerechtigkeiten muss ein Mensch erlitten haben, dass er
soviel – ich sage einmal – Hass oder Unmut über die Menschheit verspürt, dass er bereit ist, andere zu verurteilen, zu verdammen, des „Bösen“ zu bezichtigen oder gar – man denke an totalitäre
Zeiten – zu verleumden und zu denunzieren? Wie viel „Böses“ muss man in sich verdrängen, dass es unbedingt wieder raus muss, indem man es auf andere projiziert? Und wie sehr muss es im Gebälk des
eigenen Ichbildes krachen, dass man diese Identifizierung mit dem „Guten“ so dringend braucht? Gerade die deutsche Geschichte hat ja gezeigt, wohin diese Identifikation mit dem „Guten und Reinen“
schlussendlich zu führen vermag. Und vor allem: kann man denn als reflektierender Mensch, als homo sapiens sapiens, wirklich daran glauben, selbst so ausschließlich das „Gute“ zu repräsentieren,
dass man das Recht hätte, andere persönlich zu attackieren und das „Böse“ in der Welt zu vernichten?
Und man fragt sich: wo sind die Zeiten eines Voltaire, dem man den - geschichtlich allerdings nicht gesicherten - Ausspruch zuschreibt: „Ich stimme Eurer Meinung nicht zu, aber ich werde bis zu
meinem Tode Euer Recht verteidigen, Eure Meinung zu äußern."? Wie sehr steigt da auch die Achtung vor einem Nelson Mandela, der trotz Kerkerhaft und Qualen, seinen Peinigern zu verzeihen imstande
war und dann noch einen Versöhnungsprozess einleitete, wo die Untaten zwar bekannt, jedoch nicht bestraft wurden. Das nenne ich Humanität und Größe.
Reicht es nicht? Über ihn haben wir wirklich schon genug gesprochen. Mag er auch wichtig sein, es gibt noch anderes in meinem Leben.
Die liegt auch mir im Magen und seit sieben Jahren nehme ich mir vor, sie weiterzuführen. Aber, wie gesagt, es gibt noch anderes in meinem Leben. Und wer einmal versucht hat, einen so schwierigen
Text gründlich zu übersetzen, wird erkennen, wie gewaltig der Zeitaufwand dafür ist. Ich weiß also bei bestem Willen nicht, wann ich diese Arbeit machen werde.
Doch ich möchte zurück zu dem Punkt, an dem Ihr mich unterbrochen habt. Ich wollte nämlich – in der Gnostika habe ich dieses Thema oft genug angeschnitten – darauf eingehen, dass es einfach keine
absolute Wahrheit gibt oder wenigstens, dass diese für uns nicht erkennbar ist. Eine absolute Wahrheit kann, wenn überhaupt, nur eine coincidentia oppositorum – ein Zusammenfall von Gegensätzen –
sein. Deshalb lässt sich auch kein absoluter Maßstab dafür finden, welche Auffassung „richtig“ und welche „falsch“ ist. Die „richtige“ Anschauung ist nun mal sehr häufig nicht nur zeit- und
kulturbedingt, sondern ebenso personenbedingt und umständebedingt.
Deswegen sind auch Toleranz und Achtung vor dem anderen einfach unabdingbar. Insbesondere in der heutigen Zeit, in der die unterschiedlichsten Kulturkreise aufeinander stoßen. Wobei man nur
schwer bestreiten wird können, dass sich unsere westliche Kultur vielmals nicht als kulturtragend, sondern als überheblich und ausbeuterisch erweist. Ich denke dabei vor allem an die Naturvölker,
deren Lebensraum und häufig (wenn auch nicht immer) nachhaltige Wirtschaftsformen wir so leichtfertig zerstören, weil uns die Achtung vor ihren Wertsystemen fehlt. Und das heißt wiederum nichts
anderes, als dass wir diese Völker implizit als minderwertig ansehen.
Ich habe vielleicht Glück gehabt und bin auf das Beachten der anderen Seite schon frühzeitig und in aller Deutlichkeit hingewiesen worden und zwar bei meinem juristischen Studium. Einer der
wirklich grundlegenden, schon aus dem antiken römischen (!) Recht stammenden aber auch aus unserer modernen Rechtsordnung nicht wegzudenkenden Sätze lautet: audiatur et altera pars. Auch die
andere Seite muss gehört werden…. bevor man sich ein Urteil erlaubt. Und diese Lehre hat sich bei meiner früheren Geschäftstätigkeit in mehreren fernöstlichen Ländern, wo ich gemeinsam mit
einheimischen Partnern Tochterfirmen aufgebaut habe, weiter gefestigt. Auch dort musste ich auf die anderen und ihre für mich oft sonderbaren Vorstellungen hören und sie einbeziehen. Man versuche
nur einmal, die chinesische Sprache zu erlernen. Dann wird man sofort erkennen, wie anders das chinesische Denken ist. Übrigens eine ausgezeichnete Übung, die ich jedermann empfehlen würde, der
im westlichen Denken fixiert ist.
Überall scheint dieser einfache Grundsatz der Achtung des Anderen aber noch nicht im nötigen Ausmaß durchgedrungen zu sein. Könnte man denn sonst die Esoterik so ganz einfach als „irrational“
abschreiben, ohne sie eines weiteren Gedankens zu würdigen, wie das viele Wissenschaftler tun? Und – jetzt komme ich selbst auf Evola zurück - wir alle sehen doch, wie unsere
fortschrittsgläubige, globalisierte und auf materialistischen Denkansätzen beruhende Welt trotz vieler unleugbarer Vorteile auch Schwierigkeiten in sich birgt. Wenn es also schon einen so
totalen, nicht-materialistischen Gegenentwurf zu unserer modernen Welt gibt, wie ihn Evola anbietet, müsste ich mir das doch wenigstens anhören, sofern ich wirklich lernwillig bin. Ich muss ihm
ja nicht blind folgen. Ist denn ein Nein nach reiflicher Überlegung tatsächlich so viel schlimmer als ein Nein ohne vorgängige Reflexion?
Auch mir sagt Evola in vielem nicht zu. Abgesehen von seinen zahlreichen eindeutig rassistischen Auslassungen, vor allem in der Zeitschrift La Vita Italiana, die tatsächlich nicht akzeptabel
sind, gehört dazu insbesondere sein ausgeprägt manichäistisches Denken, das die Wurzel seiner scharfen Trennung in Tradition und Moderne, Nord und Süd, Mann und Frau oder ario-romanisch und
semitisch ist. Oder seine Verschwörungstheorien und seine Emotionsfeindlichkeit. Mit seiner teils aus der Theosophie übernommenen okkulten Geschichte der Welt, wie er sie im zweiten Teil der
Revolte entwickelt, kann ich persönlich ebenso wenig anfangen wie mit den ähnlichen Kosmologien von Helena Blavatsky oder Rudolf Steiner. Aber was hat das schon zu bedeuten? Allein die
Konfrontation mit seinem Werk setzt Denkprozesse in Gang und zwar ganz besonders kräftige, denn Evola ist ein Meister der scharfen Formulierung, der gnadenlosen Analyse und weiß die geballte
Kraft seiner Ideen präzise einzusetzen. Genauso wie er es versteht, unbewusste Schichten im Menschen anzusprechen. Wäre sein Erfolg sonst verständlich?
Im Übrigen widerstrebt es mir völlig, einen Menschen, der wie Evola, Dadaist, Philosoph, Esoteriker und Religionskenner war, ausschließlich auf seine politischen Ansichten zu reduzieren und
nichts anderes mehr zu sehen. War er nicht auch der große Scheiternde? Denn gleichgültig, womit er begonnen hat: mit dem Futurismus, dem Dadaismus, der Philosophie, dem Studium fernöstlicher
Religionen, der Gruppe von Ur, den Versuchen, auf Rassentheorien, Faschismus und Nationalsozialismus oder die italienische Nachkriegspolitik Einfluss zu nehmen. Er ist immer wieder gescheitert.
Anerkennung hat es für ihn während seiner Lebenszeit kaum je gegeben.
Und seine Einsamkeit nach dem Krieg, als er immer wieder vergeblich versucht hat, mit ehemaligen Bekannten, die zwischenzeitlich „Karriere“ gemacht hatten (z.B. Gottfried Benn, Mircea Eliade,
Karl Kerényi und selbst Carl Schmitt) aufs Neue Kontakt aufzunehmen. Natürlich – und ich meine das absolut nicht abwertend - haben diese Leute, nachdem sie endlich Anerkennung gefunden hatten,
Berührungsängste gezeigt und jedes Naheverhältnis zum „unbeugsamen Faschisten“ vermieden, der nie öffentliche Reue zeigte und der auch körperlich gezeichnet war. Und dann sein Tod, wo er
versuchte, sich noch - trotz seiner Lähmung - halbwegs am Fensterkreuz hochzuziehen, um „stehend“ zu sterben, wie es in vielen Mythen die Helden zu tun pflegen! Evolas Leben ist - genauer
betrachtet - eine einzige Kette des Scheiterns. The Nobility of Failure heißt ein Buch von Ivan Morris über tragische Helden Japans, das mir hier in den Sinn kommt.
Evolas „Triumph“ im Sinne von größerer Bekanntheit begann erst lange nach seinem Ableben am Ende der 80-er und Beginn der 90-er Jahre. So ist heute nicht nur sein fast gesamtes riesiges
schriftstellerisches Werk – auch das unwesentliche – auf dem Büchermarkt erhältlich, sondern es gibt ebenso zahlreiche Übersetzungen in alle möglichen Sprachen. An die fünfzig Bücher sind über
ihn geschrieben worden und seit ganz kurzer Zeit erfährt er sogar die Anerkennung mancher seiner ideologischen und politischen Gegner an den Universitäten. Und selbst, wenn man da anderer Meinung
sein kann, sollte man zumindest überlegen, warum der berühmte Faschismusforscher A. James Gregor meint, Evola könne im Grunde genommen gar nicht als Neofaschist bezeichnet werden, da seine
Vorstellungen viel zu weit von denjenigen Mussolinis entfernt gewesen seien. Man müsse in ihm vielmehr einen Okkultisten, heidnischen Magier und Anhänger einer „initiatischen Wissenschaft“ sehen.
Sei es nun wie es sei, aber die Frage, warum so jemand kein eingehendes Studium verdienen soll, ist nach all dem wohl legitim.
Grundsätzlich die Einsicht, dass alles zwei Seiten hat. Wenn ich Schwarz sehe, muss ich also Weiß mitdenken. Das eine ruft das andere früher oder später hervor. Denn wenn sich das Schwarz zu
einseitig ausbreitet, werden sich so viele Gegenkräfte aufbauen, dass es irgendwann umschlagen muss. Manichäistische Denkweisen und Extremismen haben damit langfristig keine Chance. Sie mögen
denkerisch noch so genial und in der Praxis sogar sehr erfolgreich sein, weise – das heißt auch ausgeglichen - und damit langlebig, sind sie nicht. Ebenso verhindert das „taoistische“ Denken die
Ausbildung von Ideologien, die per definitionem eindimensional sind.
Das „taoistische“ Denken ist das Gegenteil vom linearen Denken, das immer nur in eine Richtung führt. Bis es eben „Übergewicht“ bekommt und vornüber abstürzt. Beispiele gibt es da genug: von
politischen Bewegungen bis zu unserem Umgang mit der Natur. Dieses lineare Denken, auf das unsere westliche und leider zunehmend auch östliche Rationalität baut, ist das Denken des Menschen, der
glaubt, bereits alles zu wissen und es somit im Griff zu haben. In der Natur läuft hingegen nichts linear ab. Vordergründig würde man eher von einer „Wellenform“ sprechen: einmal rauf und einmal
runter. Dahinter verbergen sich aber bei genauerem Hinsehen häufig eher „Spiralformen“. Nehmen wir als offensichtliches Beispiel unser Leben von der Jugend bis ins hohe Alter. Jeder wird dabei
beobachten können, wie sich im Laufe der Zeit die Auffassungen verändern, vorausgesetzt man ist dogmatisch nicht völlig blockiert.
In der Jugend beginnt man mit einer Meinung. Durch neue Erfahrungen verändert sie sich allerdings mehr und mehr. Bildhaft gesehen bewegt man sich dabei langsam vom Ausgangspunkt in einem Bogen
(und nicht schnurgerade) bis auf die Gegenseite zu und sieht auf einmal alles diametral entgegengesetzt. Aber auch hier bleibt man (hoffentlich) nicht stehen. Es geht weiter und allmählich kehrt
man dann wieder in einem zweiten Bogen zum Ausgangspunkt zurück, allerdings – gestärkt durch die inzwischen gemachten Erfahrungen - um eine Stufe höher. Und dann macht man (hoffentlich) schon
wieder den nächsten Bogen zur Gegenseite und kehrt wieder im Bogen zum Ausgangspunkt zurück und so weiter und so weiter.
Im Idealfall hat man so im Leben mehrmals den „gleichen“ Standpunkt, aber man wird dabei immer weit blickender, weil man einen immer höheren Standort einnimmt. Die Anzahl der Spiralen hängt
allein vom Grad und der Dauer der Reflexion ab. Gleiches trifft auf das immer intensivere Studium von wissenschaftlichen Fragen zu, wo die Wegstrecke vom Laien zum Experten führt. Von einer
einfachen, klaren Meinung: „Das ist so“ gelangt man schlussendlich zu einer hoch komplexen Einschätzung derselben Frage, die von zahlreichen Wenn und Abers bestimmt ist. Das steht in völliger
Übereinstimmung mit der bekannten Geschichte aus dem Zen-Buddhismus: zu Beginn der Übungen glaubt man ein Berg sei einfach ein Berg. Nach einiger Zeit erkennt man jedoch, dass der Berg, den ich
zu erfassen glaubte, eigentlich in meinem Bewusstsein ist und somit kein realer Berg. Und erst nach der Erleuchtung wird mir dann endgültig klar, dass beides richtig ist, womit der Berg, wenn
auch auf einer höheren Erkenntnisstufe, wiederum zu einem Berg wird.
Diese Kombination von „taoistischem“ Denken mit dem „Spiraldenken“ schwebt mir als eine Art „Idealform“ vor. Sie gibt Verständnis für die Gegenseite und sie macht zurückhaltend, weil man weiß,
wie oft man selbst seine Auffassung geändert hat. Auf diese Weise verringern sich die Spannungen mit den Mitmenschen. Natürlich ist das nicht die Lösung für „alle“ Probleme, denn oft genug muss
man ganz klare und schnelle Entscheidungen treffen und viele Probleme beruhen nicht bloß auf Unverständnis und mangelnder Selbsterkenntnis, sondern auf klaren Fakten. Aber einen wichtigen Ansatz
für ein friedvolleres Miteinander könnte dieses Denken vielleicht doch bilden.
Ein solches Denken enthebt uns übrigens nicht der Pflicht, trotzdem klare Entscheidungen zu treffen. Wir müssen einfach nur die andere Seite mit einbeziehen. Das macht den Entscheidungsprozess
zwar schwieriger, erleichtert aber die Umkehr, falls sich der Entschluss als unzweckmäßig erweist. Starre gegen Flexibilität, was aber wiederum nicht Beliebigkeit, Opportunismus oder
Rückgratlosigkeit bedeuten soll. Eine klare Wertehierarchie ist da nämlich nicht ausgeschlossen, auch wenn sie wahrscheinlich ebenfalls einem Wandel unterworfen ist. Diese Ausführungen lassen
auch verstehen, warum ich persönlich mit superklaren Deutungsmustern von Mensch und Kosmos immer meine Probleme habe. Da alles im Fluss ist, glaube ich an solche ewig gültigen Erklärungen und
„Betriebsanleitungen“ einfach nicht. Bei aller Achtung für ihre großen kulturellen Leistungen bin ich deshalb schwer von der Absolutheit monotheistischer Religionen zu überzeugen. James Hillmans
Plädoyer für den Polytheismus wirkt auf mich einleuchtender. Ich neige auch der These von Jan Assmann zu, der im Monotheismus generell ein Gewaltpotential vermutet, weil diejenigen, die glauben,
die absolute Wahrheit zu vertreten, mit anderen nicht mehr darüber diskutieren können.
Daneben darf aber keineswegs auf den gewaltigen Einfluss der aristotelischen Logik vergessen werden. Auch sie hat dieses starre Ja-Nein Schema: Tertium non datur: eine dritte Möglichkeit neben
dem Richtig oder Falsch gibt es nicht. In der Mathematik und Technik wunderbar, im Leben meist unbrauchbar. Ein konsequent „taoistisch-spiralförmiges“ Denken hingegen sollte in jedem Weiß auch
den schwarzen Flecken sehen und bevor es sich ins Extreme begibt, richtungsmäßig umschlagen und sich einen darüber liegenden und damit umfassenderen Standpunkt suchen.
Das Gegenargument dazu ist das von der Schwäche des Menschen (Arnold Gehlens Mängelwesen), der feste Regeln und Institutionen brauche, um die für das Leben zweifellos notwendige Ordnung
aufrechterhalten zu können und nicht im Beliebigkeitschaos zu versinken. Aber jetzt sind wir mitten in einem Gebiet, das sich gewiss nicht in einem schnellen Gespräch erhellen lässt, sondern eine
viel reifere Reflexion braucht als sie in einem Interview möglich ist.
Daher auch mein „Pendeln“ zwischen Wissenschaft und „Menschenschaft“, wozu ich übrigens die Esoterik ebenfalls zähle. Beide „Weltschafften“ sind notwendig. Nur nicht einseitig werden und vor
allem genau wissen, auf welchem Felde man sich gerade bewegt. Bei rein technischen Fragen werde ich wohl den wissenschaftlichen Weg wählen müssen, geht es hingegen um menschliche Probleme wird
mechanisch-logisches Denken leicht fehlschlagen. Da muss ich z.B. Emotionen und irrationales Verhalten einkalkulieren und zulassen. Analogiedenken und Mythen helfen beim Brückenbau wohl nicht,
aber bei der Lösung psychischer Probleme und Fragen sind sie sicherlich nützlicher als die Integralrechnung.
Daher sehe ich meinen „Taoismus“ auch nicht als postmoderne Beliebigkeit. Es sollte eben doch alles seinen Platz und seine Zeit haben. Es geht um Stimmigkeit in diesem „Differentialismus“. Die
möglicherweise sich anschließende Frage, wo dann die „Transzendenz“ ihren „Platz“ hat, die für unser Leben den Fixpunkt abgeben könnte und wo genau der wechselvolle „Fluss des Lebens“ einsetzt
und vor allem, wie man die rechte Mitte zwischen beiden findet, ist damit allerdings noch nicht gelöst.
Natürlich hat auch das „taoistische“ Denken eine Kehrseite. Kurzfristig ist es viel weniger „effektiv“ als das lineare. Es ist aber wegen des Abbaues der Spannungen und Ausloten der vorhandenen
Möglichkeiten bei weitem „nachhaltiger“. In einer Zeit allerdings, in der die Wirtschaft nur die nächsten Quartalsergebnisse im Blick hat, hat es eindeutig weniger Chancen. In einer
funktionierenden Demokratie hingegen sollte das Wechselspiel von Regierung und Opposition diese Nachhaltigkeit garantieren.
Gleichzeitig garantiert ein solches Denken weit besser die Freiheit des Menschen, sein vielleicht wichtigstes Gut. Seine mangelnde Eindeutigkeit erfüllt aber leider nicht die Sehnsucht nach
Sicherheit, nach dem Wissenwollen, wo genau es lang geht. Ja, es kann ob der Unwägbarkeiten des Lebens sogar Angst auslösen. Zusätzlich erschwert es den Aufstieg von Führern und Demagogen, die
das (immer unerschütterlich feststehende) Heil versprechen und damit Angst nehmen.
Ein „Standardwerk“ ist es doch nur, weil es das einzige umfassende Buch zum Thema ist. Mir als Autor sind die Mängel - und damit meine ich vor allem eine echte geistesgeschichtliche Einordnung
von Eranos in das 20. Jahrhundert - vielleicht mehr bewusst als dem schnellen Leser, dem bei allen gebotenen Fakten und Hinweisen nur der Kopf schwirrt. Obwohl nun eine englische und eine
italienische Fassung des Buches in Arbeit sind und diese Neufassung um ein Drittel umfangreicher sein dürfte als der Originaltext, wird sich an dieser unbefriedigenden Situation leider nur wenig
ändern. Ich schreibe zwar die Geschichte von Eranos bis zur Jetztzeit weiter und füge auch zahlreiche Zusatzinformationen aus inzwischen erschienener Literatur ein, für eine echte
Geistesgeschichte fehlen mir jedoch Atem, Wissen und Können.
Aber Ihr habt mich gefragt, wie ich zu Eranos gekommen bin. Das war eine zwangsläufige Entwicklung. Mein Interesse für C.G. Jung, Mircea Eliade, Karl Kerényi, Walter Otto oder James Hillman hat
mich immer wieder auf Eranos stoßen lassen und als ich einmal die Jahresbände der Tagungen in meiner Bibliothek zusammengetragen hatte, wurde mir die Wichtigkeit der Tagungen noch deutlicher
bewusst. Dann begann ich auch noch andere Eranosredner wie Gershom Scholem, Adolf Portmann oder Henry Corbin zu studieren und so ging es weiter. Der Rest ist im Vorwort meines Eranosbuches
nachzulesen.
Viel zu viele. Zwei will ich aber auf jeden Fall noch realisieren. Das erste ist eine umfangreiche Geschichte der Sexualmagie. Einen Anfang dazu habe ich ja schon in der sechzehnbändigen
Encyclopedia of Religions gemacht. In einem von Wouter Hanegraaff herausgegebenen Sammelband namens Hidden Intercourse wird in diesem Jahr (2008) auch noch ein längerer Beitrag von mir über die
sexualmagischen Vorstellungen der Fraternitas Saturni sowie von Maria de Naglowska, Giuliano Kremmerz und Evola erscheinen. Aber da gibt es noch viel mehr zu berichten und da ich seit mindestens
dreißig Jahren Material zu diesem Thema sammle, glaube ich, doch etwas Interessantes zustande bringen zu können.
Das zweite und für mich persönlich noch wichtigere Projekt hängt mit der Frage des Todes zusammen. Nach einer kritischen Betrachtung der Nahtodeserfahrungen à la Moody sowie des
Reinkarnationsglaubens möchte ich mich den menschlichen Bemühungen um „Unsterblichkeit“ widmen. Das wird von wissenschaftlichen Versuchen bis zu solchen magischer, alchemischer und taoistischer
Art führen. Unter einem dreibändigen Werk werde ich da wohl nicht davonkommen. Damit möchte ich mich natürlich in den eigenen Tod und den damit verbundene Erfahrungen einüben. Die Aufgabe des
Alters besteht ja nicht darin, der Jugend nachzutrauern oder sie gar nachzuahmen, sondern sich auf die große Erfahrung des Todes vorzubereiten. Das wussten die alten und in dieser Hinsicht auch
weiseren Völker seit jeher. Man denke an Indien, wo man sich in der vierten Lebensphase in die Wälder zurückzog, um zu meditieren und der Erlösung näher zu kommen.
Zur Frage, welche Lebensaufgaben die Inder in den einzelnen Lebensphasen als die wesentlichen ansahen, wird übrigens bei AAGW in nicht allzu ferner Zeit ein Buch herauskommen, zu dem ich die
Einführung schreiben werde. Es stammt wieder einmal von einem „Verfemten“, nämlich von Alain Daniélou, dem Bruder des Kardinals Jean Daniélou, der als Fachmann für indische Musik und als sich
bekennender Homosexueller nach Indien ging, dort Jahrzehnte lang lebte und sich zum Shiwaismus bekehrte. Seine negative Haltung gegenüber Gandhi und seine Verteidigung des indischen Kastenwesens
werden seine Rezeption bei uns voraussichtlich jedoch nicht ganz leicht machen.
Das ist anzunehmen. Ich will zwar mit Sicherheit kein Kastenwesen in Europa, aber ich sehe nichts Verbotenes, wenn ein sehr intelligenter Mensch, der noch dazu Indien hervorragend kennt und
dessen Sprache(n) spricht und liest, Argumente vorbringt, die seiner Meinung nach das Kastenwesen dort für gerechtfertigt erscheinen lassen. Abgesehen davon geht es in dem Buch nur im ersten Teil
ums Kastenwesen. Der zweite und für uns Europäer praktischere Teil stellt sich die schon oben angeschnittene Frage der einzelnen Lebensphasen des Menschen. Das halte ich für absolut
nachdenkenswert. Und vielleicht darf ich hier den großen Verleger Samuel Fischer zitieren: „Dem Publikum neue Werte aufzudrängen, die es nicht will, ist die wichtigste und schönste Mission des
Verlegers.“
Meine Botschaft als Autor, Herausgeber, Verleger und Übersetzer lautet nun mal: Kampf der Eindimensionalität. Sicherlich liebe ich auch etwas die Provokation, aber dabei geht es mir keineswegs um
ein simples „épater le bourgeois“, also um ein „Schockieren bürgerlicher Kreise“ – die „brave“ Bürgerschaft hat sehr wohl ihre Wichtigkeit, für die sie auch Dank verdient – sondern um
Denkanstöße. Und wenn man irgendwo fest anstößt, tut es nun einmal weh. Aber ohne Wehtun keine Änderung und Änderung ist Leben. Ich kann mich noch gut erinnern, wie mich in jungen Jahren der
Titel von Franz Werfels Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig zuerst etwas aus dem Gleichgewicht gebracht hat und dann zum Nachdenken und Nachlesen. Dankbar für den Anstoß ist man
jedoch nur dann, wenn der Denkprozess abgeschlossen ist. Viele wissen das allerdings zu verhindern, indem sie gar nicht erst damit beginnen. Aber dafür können der Autor, der Verleger oder
Herausgeber nichts. Das nicht denkerische Geschrei ist halt zu ertragen, selbst wenn es nicht immer lustig ist.
Im Sinne des „Taoismus“ gehören kontroverse Bücher eben auch auf die Welt gebracht und in diesem Sinne sind sogar grob irrende Bücher nützlich, weil sie aufzeigen, wie es eben nicht geht. Und
offen gestanden möchte ich darüber hinaus den ehrlichen und beinahe hätte ich gesagt ehrenhaften Verlierern im Kampf um die Weltanschauungen meine Achtung erweisen. Mir hat deswegen auch – trotz
der vielen Hollywoodiaden und Kitschszenen – der Film Der letzte Samurai mit Tom Cruise gefallen. Dieses Insistieren auf kontroversen Büchern soll aber andererseits keineswegs heißen, dass nicht
bücherische Dutzendware ebenfalls ihre Meriten hat. Viele verdienen ihr Geld damit und vermögen so, ihre Familien redlich zu ernähren. Nicht jedermann kann sich erlauben Risiken einzugehen.
„Taoistisches“ Denken also auch hier.
Neben der Esoterik beschäftigst Du Dich auch mit Psychologie und Psychosomatik. Ein Paradebeispiel ist ja Dein Aufsatz über den hohen Blutdruck. Und ein Aufsatz über „Hundehaltung als Weg der
Selbsterkenntnis“ ist ebenfalls im Entstehen.
Mit Psychologie habe ich mich schon in früher Jugend beschäftigt. Das ist wohl auch das Los eines Einzelkindes: in der Theorie zu lernen, was in größeren Familien die Praxis lehrt. Die
Psychosomatik ist erst später hinzugekommen. Da verdanke ich Rüdiger Dahlke sehr viel. Ich habe ihn ja gemeinsam mit Thorwald Dethlefsen schon in den 80er Jahren kennen gelernt. Seinen mit
Dethlefsen formulierten psychosomatischen Ansatz, den er allerdings entscheidend weiterentwickelt hat, halte ich für äußerst fruchtbar, um nicht gleich genial zu sagen. Auch mir ist das erst
bewusst geworden als ich mit zunehmendem Alter auf einmal manch Zipperlein in meinem bis dahin „klaglos funktionierenden“ Körper spürte. Was man als körperliches Symptom empfindet und vehement
als solches verteidigt, entpuppt sich nur allzu oft als psychologisches Manko. Das ist mit einem zwar zuerst leidvollen, aber schlussendlich innerliches Heil bringenden Reifeprozess verbunden,
der wunderbare neue Perspektiven auf das zukünftige Leben zu werfen vermag.
Wenn man soviel Interessantes erforschen und schreiben darf wie ich, ist man bereits voll ausgelastet. Aber nachdem man nicht 24 Stunden vor den Büchern oder dem Computer sitzen kann, betreibe ich natürlich einen Ausgleich. So übe ich schon seit vier, fünf Jahren Qi Gong mit einer Lehrerin, die einen ungemein scharfen Blick für meine Unvollkommenheiten hat. Qi Gong passt natürlich perfekt zu meiner angestrebten „taoistischen“ Grundeinstellung. Daneben liebe ich Wanderungen in der freien Natur. In meiner Heimat gibt es alles, von sanften Hügeln bis zu hohen Bergen ebenso wie Seen, Wälder und Wiesen. Die Österreicher sind keine großen Wanderer und daher findet man hier auch noch genügend Einsamkeit. Touristen gibt es in meiner näheren Heimat ebenfalls nicht viele. Freundliche Gaststätten finden sich jedoch trotzdem in ausreichendem Maße. So habe ich im Laufe der Jahre weite Gebiete meiner Heimat erwandert. Begleitet werde ich dabei immer in allerfreudigster Weise von einem neugierigen schwanzwedelnden Wesen mit treuen Augen. Das jetzige heißt Kitey und ist ein schwarzer Labradorrüde. Hin und wieder begleiten mich auch meine Frau oder Freunde, denen ich als Wanderführer diene. Diese Wanderungen gehören wohl zu den schönsten Dingen meines Lebens. Auch dabei lernt man Bescheidenheit, aber ebenso Zuversicht. Vor allem erkennt man die Nichtigkeit vieler alltäglicher Sorgen.
Das ist zum Teil auf meine Skepsis esoterischen Führern und Richtungen gegenüber zurückzuführen und zum Teil ein biographischer Zufall. Gerade, weil ich so viele Esoteriker kennen gelernt habe,
sah ich auch, wie relativ ihr Wissen war. Schon in der Zeit als ich noch in London als „Hippy“ in den Parks unterwegs war, war ich einmal bei den Children of God, einmal bei den Hare
Krishna-Jüngern und dann wiederum anderswo.
Bei all den Gruppierungen, bei denen ich zu Gast war, habe ich zwar jedes Mal viel gelernt und Freunde gewonnen, war aber nie wirklich befriedigt. Mir ging es immer um ein übergeordnetes Wissen,
das alle diese Einzelwege übersteigen und in sich fassen sollte. Wie ich im Berufsleben selbständig sein wollte, so auch in der Esoterik. Und so suchte ich nach „objektiven“ Kriterien. Das führte
mich natürlich zu Schriften, die sich mehr oder weniger wissenschaftlich mit Esoterik auseinandersetzten. Die also nicht geschrieben worden waren, um Anhänger um sich zu scharen, sondern
historische Fakten aufzeigten. Und da musste ich früher oder später auf Leute wie Joscelyn Godwin, Antoine Faivre oder Massimo Introvigne stoßen, die ich dann anlässlich von Konferenzen, die ich
besuchte, auch persönlich kennen lernte. Das geschah allerdings erst, nachdem ich meine Geschäftsanteile verkauft und die nötige Zeit dafür hatte.
Dazu kam, dass ich auf diese Weise bei der Gründung der Palladian Academy dabei war, deren Ziel darin bestand, einen Freundeskreis von „fortgeschrittenen“ und meist akademisch gebildeten
Esoterikinteressenten aus den verschiedensten Ländern aufzubauen. Man wollte sich einmal im Jahr treffen, wobei jeder Teilnehmer einen Vortrag über ein esoterisches Thema halten sollte. Da die
Treffen nicht öffentlich waren und der Kreis relativ klein, konnte man - völlig frei von irgendwelchen Rücksichten auf akademische Gepflogenheiten - auch über Dinge sprechen, die wissenschaftlich
noch nicht abgesichert waren. Zu diesem Kreis gehörten eben auch einige, die heute an Universitäten lehren und die mir die wissenschaftliche Beschäftigung mit Esoterik noch näher brachten. Das
erste Treffen fand in Oberitalien in einer Palladiovilla statt und daher der Name. Einmal gab es auch eine Zusammenkunft in der rebenreichen Südsteiermark, die ich organisierte. Später fanden die
Treffen in Südfrankreich statt.
Die 90er-Jahre waren überhaupt eine äußerst fruchtbare Zeit für die akademische Behandlung der Esoterik. In ihr setzte endlich eine breitere Forschung ein, Lehrstühle wurden geplant und
geschaffen, wichtige Literatur erschien und außergewöhnlich talentierte Nachwuchsforscher reiften heran. In dieser Zeit begann auch die Gnostika mit ihrer Tätigkeit.
Und zum Schluss noch die eigentlich selbstverständliche Bemerkung, dass die Beschäftigung mit „akademischer“ Esoterik keineswegs ausschließt, dass man rein persönlich der einen oder anderen Richtung ebenfalls etwas näher tritt.
Einem Bücherliebhaber wie mir, der immer viel mehr von Büchern beeinflusst war als von Menschen aus seiner Umgebung, fällt die Auswahl nicht leicht. Die folgenden drei Bücher gebe ich in der Reihenfolge an, in der ich selbst sie zu lesen bekam: Fjodor Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, Sri Ramana Maharshi, Gespräche des Weisen und schließlich Julius Evola und Gruppe von UR, Magie als Wissenschaft vom Ich.
Quelle: „Interview mit Dr. Hans Thomas Hakl“. In: Gnostika 38, März 2008 (Sinzheim: AAGW, 2008), S. 26.